Erhard Lesacher
Der Blick auf den Kontext zeigt aber auch, dass der Tor nicht einfach eine theoretische Feststellung trifft. Vielmehr geht es um Praxis: „Sie handeln verderbt, handeln abscheulich; da ist keiner, der Gutes tut.“ – Denn es gibt ja keinen Gott.
Ein zweiter für mich einprägsamer Impuls durch ein Bibelzitat: Ein Teilnehmer meiner Dogmatik-Vorlesung war der Meinung, ich würde einseitig die Barmherzigkeit Gottes betonen, und hielt mir deshalb mehrfach den folgenden Satz vor: „Es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“ (Hebr 10,31) Er las diesen Satz „selbstverständlich“ mit dem Vorzeichen des strafenden Gottes. So nehmen sich die einen die Stellen heraus, die vom strafenden Gott sprechen, die anderen jene, in denen der barmherzige Gott zur Geltung kommt. Und beides ist biblisch begründbar?
Meine Antwort an den Teilnehmer: Der einzelne Satz muss von der Mitte der Bibel her verstanden werden. Jesus hat den Gott der reinen, bedingungslosen Liebe gelebt und verkündet. Texte, die diesem Gottesbild scheinbar widersprechen, müssen vom „Gott ist Liebe“ (1 Joh 4,16) her beurteilt und interpretiert werden. Unter diesem Vorzeichen klingt Hebr 10,31 für mich so: Wenn ich der Liebe, die Gott ist, ganz begegne, wird es für mich furchtbar sein zu erkennen, wie wenig ich dieser Liebe gemäß gelebt habe. – Und trotzdem darf ich mich ganz und gar angenommen wissen.
Erhard Lesacher, Leiter der THEOLOGISCHEN KURSE